Kinder & Welt
48 Kinder im ersten und zweiten Schuljahr saßen in festgeschraubten Bänken
und schauten alle zur Tafel, als ich als junge Lehrerin 1967 in einem bayerischen
Dorf,
Stoffen bei Landsberg, in einer mehrhäusigen Verbandsschule zu unterrichten begann.
So viele fremde Kinder in einem Raum in einem fremden Ort!
Das hört
sich schrecklich an, aber ich fand meine Arbeit mit den Kindern unmittelbar
sinnvoll. Gegenstand des Lernens war die Welt, der Unterricht selbstverständlich
ungefächert:
Gesamtunterricht mit der Heimatkunde im Kern.
Die heimatliche Welt war überschaubar, mehrere Dörfer gehörten
dazu.
Alle Kinder kamen bequem zu Fuß in die Schule.
Die Weltdinge im
Unterricht, die nicht alle sowieso kannten, holten wir in die Klasse oder
suchten
sie draußen auf, miteinander am Vormittag oder nachmittags als Hausaufgabe.
Alles wurde interessanter durch die Schule.
Einmal lagen alle Kinder in der
frischgemähten Wieso und starrten so lange auf eine Stelle am Boden, bis
sich dort etwas bewegte. - Was war das?
In München 1971 hat meine Klasse nur noch 45 Kinder, und alle im gleichen Schuljahr.
Hier im Bild fehlen sechs Kinder, Masern sind sehr ansteckend.
Tische und Stühle waren beweglich und die Kinder etwas eigenwilliger als auf dem Land.
Weiter war die Wirklichkeit unseres unmittelbaren Lebens das Lernfeld,
wurde erkundet, beschrieben, durchdacht, gezeichnet, in Experimenten
befragt, bestaunt, gedeutet und dokumentiert.
Viele Kinder zusammen sehen, hören, finden und erkennen mehr als
einzelne, wenn sie Erfahrungen teilen, darüber fachsimpeln und
sich gemeinsam belehren lassen.
Wenn Renates Vater Bäcker ist, kann man ihn in der
Bäckerei besuchen und sich sein Handwerk zeigen lassen: Wie macht
er die Semmeln , die man woandsers in Deutschland Brötchen
nennt oder Schrippen?
Von der Schule aus kann man der Wirklichkeit hinter die Mauern schauen,
um dann im Klassenzimmer in Sprache zu fassen, was man beim Lernausflug erfahren hat:
Wortsammlungen, Reihensätze, Niederschriften, Hefteinträge, Freie Texte - Hefte füllen sich.
Überall gibt es etwas zu lesen, zu lernen, zu notieren
für Erstklässler, zu denen die Schrift grad zu sprechen
beginnt. Die Hausaufgabe hat diese beiden in den Supermarkt geschickt.
Sie schauen sich um und notieren, was sie einkaufen würden,
hätten sie Geld dafür.
Und es ist
ganz in Ordnung, sich am Boden kniend Notizen zu machen, um mit ihnen etwas
von der Welt in die Schule zu tragen.
Wenn im Klassenzimmer gezeigt wurde, wie manche Stoffe das Wasser abperlen
lassen,
andere es aufsaugen, kann man draußen auf dem Hof weiter Wasser
ausschütten und beobachten,
was damnit geschieht. Und sogar daheim wird das Reihenexperiment fortgesetzt.
Am nächsten Tag in der Schule hat dann jeder etwas zu erzählen, was alle anderen
interessiert. Allgemeine Fachsimpelei über unsere gemeinsame Welt.
Am schönsten aber sind alle miteinander in der Welt, wenn sie einen Ausflug
machen,
einen langen Tag ganz weit weg sind von allen Tischen und Bänken,
Papieren und Stiften,
und müde und satt von geteilter Welterfahrung heim kommen und ins Bett
sinken.
1983 hat sich vieles verändert, zwanzig Kinder weniger sind in einer Klasse versammelt.
Werden sie zu einem Bild aufgestellt, soll jedes Einzelne in seiner Eigenart zu sehen sein.
Neugier, Interesse und Freude an geteilter Welterfahrung sind dieselben
wie damals auf dem Dorf. Immer wieder neue Kinder öffnen Horizont
und Herz ihrer Lehrerin.
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