Schriftsprache

Schriftsprache - ein gängiger Begriff, der oft zu ungenau gebraucht wird.

Kinder, die in die Schule kommen oder sich vorher schon für Schrift interessieren,
wollen Lesen und Schreiben lernen, um über Buchstaben, Wörter, Geschichten und Bücher 
verfügen zu können.

WissenschaftlerInnen, die zu ergründen versuchen, wie das geschieht, 
sprechen seit einiger Zeit von Schriftspracherwerb und formulieren ihre Erkenntnisse 
oder Vermutungen etwa in Modellen des Schriftspracherwerbs. 
Sie benutzen eigene Fachsprachen, die nicht dazu taugen, 
sich mit Kindern über das Lesen- und Schreibenlernen zu verständigen.

LehrerInnen müssen mit Kindern umgehen und versuchen, 
sie in ihrem Denken unmittelbar zu verstehen und zu erreichen, 
um ihr Lernen anregen, herausfordern, ordnen und unterstützen zu können. 
Dafür müssen sie die Sprache der Kinder sprechen, sich ihr anpassen 
und sie um neue Begriffe und Redeweisen erweitern.
Gleichzeitig mit der Bewältigung dieser Aufgabe oder im raschen Wechsel damit 
über das Lesen- und Schreibenlernen in der Art und Sprache der Wissenschaften nachzudenken, 
ist kaum jemandem möglich. 
LehrerInnen müssen anders denken und reden als WissenschaftlerInnen.

Buchstaben, Wörter, Geschichten, Bücher sind das, was die Kinder sich zu eigen machen wollen. 
Sie benutzen das Wort Schriftsprache nicht. Wer fragt sie, was sie darunter verstehen? 
Sprache ist für sie wahrscheinlich das, was man spricht. 
LehrerInnen müssen beim Nachdenken über das Lesen- und Scheibenlernen 
oft zwischen Sprechsprache und Schriftsprache unterscheiden.

Schriftspracherwerb ist ein hochkomplexer, individueller, geheimnisvoller Lernprozess, 
der nicht direkt zu beobachten und dessen Anfang und Ende nicht eindeutig zu bestimmen ist.
Wie er auf den Sprechspracherwerb angewiesen ist, ist noch kaum erforscht 
und in Konzepten des Schriftspracherwerbs wenig mitbedacht.
Hier können Erfahrungen der Sprachentwicklungstherapie wichtig werden (s.u.).

   

Ein Elefant! Das sehen wir auf einen Blick. 
Sein Bild und das Wort in der Lesefalte 
sagen es und bestätigen einander.

 

Bild und Wort sind nicht der Elefant selbst. 
Es sind jeweils andere Symbole 
für den Elefanten, der aber, 
wenn wir ihm tatsächlich begegnen, 
im Zoo, im Zirkus oder in freier Wildbahn, 
grau ist, wuchtig und einschüchternd, 
nicht so buntbeinig und harmlos wie dieser hier.

 

 
Ein Kind, ein kleiner Künstler hat diesen Elefanten gezeichnet, 
mit hängendem Ohr und hängender Unterlippe, mit Quaste am Schwanz 
und einer Rüsselspitze, die zart ergreifen kann, was man dem Tier hinhält.
Es hat sein Wissen und Empfinden abgebildet, und dabei ganz sicher auch sich selbst.
Was wurde diesem Kind vorher gezeigt und mit dem Kind besprochen, 
bis es von Elefanten soviel wusste, wahrgenommen und empfunden hatte, 
dass es einen Elefanten so persönlich, liebevoll und überzeugend zeichnen konnte?

Wie Sache und Sprache, Ding und Wort zusammengehören, 
ist nicht allen Kindern gleichermaßen klar, wenn sie in die Schule kommen. 
Sie haben nicht verstanden, dass und wie Bilder und Sprache Wirklichkeit symbolisieren. 
Sie wissen nicht oder nur vage, dass Wörter etwas bedeuten und sie sich darum mit anderen, 
die die gleichen Wörter kennen und benutzen, sprechend auf dieselben Dinge beziehen können.

Wie gewinnt ein Kind Einsicht in die Symbolisierungsfunktion von Sprache?
Jemand spricht mit ihm und bezieht sich dabei auf ein Drittes, das anwesend sein muss, 
damit man es anfassen oder gemeinsam darauf blicken oder deuten kann. 
"Vorsichtig! Nicht so fest hinfassen!" - „Schau mal, da ist ...!“ 
Später kann das Gezeigte und Benannte, das Begriffene auch abwesend und unsichtbar sein. 
Im Wort ist es den beiden, 
die sich auf eine geteilte und benannte Erfahrung der Wirklichkeit beziehen, gegenwärtig. 
Dann kann das Kind auch anderen, die nicht dabei waren, davon erzählen. 
Und schließlich besitzt es eigene Vorstellungen, innere Bilder, 
die von Wörtern wachgerufen werden, die es hört.

Das ist stark verkürzt das, was vorausgegangen sein muss, damit ein Kind 
sich mit der Symbolisierungsfunktion der Schriftsprache,
in der wiederum die Buchstaben Symbole für Laute sind, auseinandersetzen kann. 
(s. Barbara Zollinger)
Nicht alle Kinder, die in die Schule kommen, können das. 
Und die Schule kann kaum erkennen, welche Kinder diese Grundbeziehung zur Sprache 
und Voraussetzung des Schriftspracherwerbs nicht mitbringen 
und dadurch gehindert sind, im Unterricht - sei der nun anleitend oder anbietend – 
interessiert, aktiv und zügig lesen und schreiben zu lernen.

Diese Kinder mit ihrem verborgenen, diffusen Leiden 
müssen unbedingt in der Schule die Schriftsprache als etwas erleben, 
das sie nicht diffus fordert und bedroht, sondern ihnen Sicherheit gibt, 
weil es beständig, überschaubar, handhabbar, treu und immer für sie da ist, 
ihnen gehört und sie mit anderen, zunächst mit den Kindern und den Erwachsenen in ihrer Schule, dann aber auch mit Menschen außerhalb der Schule verlässlich verbindet.

Im Konzept von Wort * Welt * wir stecken viele Möglichkeiten, 
Sprache – gesprochen und geschrieben bzw. gedruckt - so einzusetzen und zu erleben, 
dass Kinder diese Sicherheit erfahren und eine Chance bekommen, 
Einsicht in die Symbolisierungsfunktion der Sprache nachzuholen, 
um dann die zweite Ebene der Symbolisierung in der Schriftsprache so bewältigen zu können, 
dass sie schließlich auch gerne und geläufig lesen und schreiben (lernen) können. 

Dringender Lesehinweis:

Barbara ZÖLLER (Hrsg.): Wenn Kinder die Sprache nicht entdecken – Einblicke in die Praxis der Sprachtherapie. Haupt Verlag, Bern, Stuttgart, Wien, 2. Aufl. 2002, 79 S.

(Aus dem Vorwort zu diesem Bericht aus logopädischer Praxis: „Da es auch für uns interessant und lehrreich war, unsere Arbeit in einer einfachen Sprache ohne (allzu viele) Fachausdrücke zu beschreiben, haben wir beschlossen, die Texte in Form eines Buches zu veröffentlichen.“ – Kommentar U.A.: So wenige Seiten, so klare, lebensnahe Sprache, so ergiebig für immer neue Lektüre!)

Wenn die Kinder zu lesen beginnen und allmählich glückliche LeserInnen werden sollen, die ihr Interesse an der Sache mit Vergnügen an der Sprache verbinden, kommt es sehr auf die Qualität der Texte an, die wir ihnen zu lesen geben. Darum geht es im Aufsatz >Weil die Sprache meine Sache ist“, den man im Download findet. Mehr dazu unter SACHE & SPRACHE

Download: Die Macht der ersten Wörter