Vorlesen lassen

Ein Lesefest vor bald vierzig Jahre. 
Damals waren diese Kinder im zweiten Schuljahr. 
Vormittags hatte ein Kinderbuchautor 
auf dem besonderen Stuhl gesessen und für sie gelesen.
Abends hatten sich Eltern, Geschwister, Großeltern 
in der Autorenbuchhandlung in München versammelt, 
um den Kindern zuzuhören, 
die aus ihrem Geschichtenheft vorlasen,
was sie im Unterricht verfasst hatten. 
Meist waren das freie Texte. Alle Kinder 
hatten selbst entschieden, was sie vorlesen wollten, 
und hatten tüchtig geübt. 
„Wenn man aufgeregt ist, verliest man sich leicht.“ 
„Und die Stimme wird so schwach.“ 
„Die wollen ja alle hören, was vorgelesen wird.“

Kinder vorlesen lassen

Wenn man Kinder vorlesen lässt, muss man immer damit rechnen, 
dass sie mehr ungenau in sich rein, als deutlich und zu den anderen hin sprechen. 
Es strengt oft an, ihnen zuzuhören, wenn sie den Text nicht geübt haben. 
Und der Text kommt dabei leider selten gut zur Geltung. 
Auch professionelle Vorleser müssen vorher studieren, was sie vorlesen wollen, 
und machen sich Atem- und Pausenzeichen in den Text. 

Darum habe ich Kindern, deren frischer Text in der Klasse vorgelesen werden sollte, 
immer angeboten, das Vorlesen für sie zu übernehmen. 
Sie konnten wählen und haben meist lieber zugehört. 
Und ich hab durch mein Vorlesen ihren Text ordentlich aufgewertet.

Dabei haben meine Schulkinder sehr viel Übung im Lesen mit Stimme gehabt.
Fast jeden Tag gab es einen Lesetext zum Üben als Hausaufgabe. 
Und alle haben dann gerne vorgelesen, allerdings im Kreis, wo auch gehört wird, wer leise spricht.
Die Zuhörenden hatten den Text vor sich, lasen mit und konnten leise einhelfen. 
Das  war keine Prüfung mit Angst vor Fehlern, aber ein Augenblick der Bewährung. 

LehrerInnen vorlesen lassen

Den Kindern vorzulesen, was für sie lohnend ist, auch wenn sie das vielleicht nicht 
vorher wissen oder in den ersten Minuten schon merken, 
ist eine der schönsten und wichtigsten Aufgaben von GrundschullehrerInnen.
Was heißt hier „vorlesen lassen“? 
Die Kinder lassen es zu, dass die Lehrerin ihnen zu Gehör bringt, was sie dafür ausgesucht hat, 
und versuchen dem Text möglichst genau zu folgen, wollen sie hören.
Sie lesen nicht selbst, sondern lassen sie das tun, lassen sie Vorlesedienst tun. 
Geben und Nehmen sind beidseitig und verschränkt. Ideal!

Manche Kinder und manche Klassen müssen solches Zuhörenkönnen erst entwickeln.

Eltern vorlesen lassen

Wie kann man Eltern, die das nicht sowieso tun, 
dazu bewegen, sich mit einem Buch zu ihrem Kind zu setzen und vorzulesen? 
Das hängt von Phantasie, Vertrauen und verfügbaren Büchern ab. 
Manchmal ist es ganz einfach. 

Als ich Sema eine türkische Übersetzung von >Frederik< aus der Bibliothek mitbrachte, 
nahm sie das Buch mit heim und erzählte am nächsten Tag: “Meine Mama hat geweint, 
aber vor Freude, weil sie jetzt auch meinem kleinen Bruder ein Buch vorlesen konnte.“

Elternerziehung zum Vorlesen aber, wie es sich manche Leseförderer zutrauen, 
gerät leicht anmaßend, vor allem dann, wenn den Eltern auch noch aufgegeben wird, 
bestimmte Fragen an ihr Kind zu stellen, die ein bestimmtes Textverständnis vorschreiben. 
Manchmal fehlt einfach ein Buch, aus dem man vorlesen könnte.
Da sollte die Schule etwas zu geben haben, nicht zu fordern.

Für den, der Geld und Interesse hat, gibt es heute viele schöne Vorlesebücher. 
Man kann sie ausleihen, für die Klasse anschaffen oder den Eltern als Geschenk empfehlen.
Die unten genannten drei Vorlesebücher eignen sich dafür und dafür. 
Sibylle Sailer die Geschichten unter vielen anderen ausgewählt und die Bücher herausgegeben. 
Tilman Michalski hat ihnen Bilder mitgegeben, wie ich sie Kindern wünsche.

Wunderbare Vorlese-Bücher

Sibylle Sailer/Tilman Michalski
- Ich hör dir zu und denk mir was. Arena Verlag Würzburg 2003
- Klein in einer großen Welt. Bertelsmann Verlag München 2004
- Du musst den Mond fragen. Arena Verlag 2006


Download: Vorlesen – wunderbar wichtig (PDF, 27kB)
Download: Ich hör dir zu und wünsch mir was (Nachwort) (PDF, 38kB)